Zum
Jubiläum im Oktober 2002 erhält Horst-H. Filohn, der inzwischen seit einem
Vierteljahrhundert am Renaissance-Theater ist und als Intendant die achte
Spielzeit verantwortet, Anerkennung für das Profil, mit dem er das Überleben
der Bühne erkämpfte: »Filohn traf – im Gegensatz zu anderen Berliner
Intendanten – mit seinem Konzept in eine Marktlücke. Geistreiches, auch elegant
Amüsantes, dabei der Gegenwart durchaus kritisch gegenüberstehendes Kammerspiel
mit berühmten Mimen und Autoren.« Einer der besten Kenner der Berliner
Theaterlandschaft, der Kritiker Joachim Werner Preuß, sieht ihn gar »im
wörtlichen Sinne als deus ex machina: Kaum jemand hat in ihm den Retter
sehen wollen, der er doch (wundersam?) wurde«. Filohn selbst erklärt seinen
Erfolg den anläßlich des 80. Geburtstages des Theaters versammelten Gästen mit
launigem Understatement: »Wer Privattheater macht, muß auch aus der Abwehr von
Katastrophen einen Lustgewinn ziehen, muß sie produktiv machen können; wer
Privattheater macht, muß immer Optimist sein …«
Optimist
sein muß Filohn in der Tat angesichts der veränderten Bedingungen, unter denen
er das Theater jetzt zu leiten hat. Denn anders als bei seinem Amtsantritt
lassen die stark gekürzten Mittel weniger Neuinszenierungen pro Spielzeit zu.
Der Erfolgsdruck ist größer. Es gibt kein Polster, wenn auch nur eine davon
nicht überdurchschnittlich gut gelingt, wenn auch nur eine vom Publikum nicht
angenommen wird und nicht über längere Zeit gespielt werden kann. Gleichwohl
bleibt Filohn, jetzt unterstützt von der Dramaturgin Gundula Reinig, bei seinem
Kurs und stellt weiterhin internationale Gegenwartsdramatik vor: vierzehn
Erstaufführungen allein zwischen 2002 und 2008.
Zwei
zeitgenössische Autoren erscheinen seit 1996 besonders häufig auf dem
Spielplan, und das mit gutem Grund, kommen doch ihre Stücke auf der Bühne
dieses Hauses so recht zur Geltung: der Dialogwitz in den modernen
Kammerspielen der Französin Yasmina Reza genauso wie die Doku-Fiction-Dramen zu
Themen der jüngsten Vergangenheit und Komödien des Briten Michael Frayn. Von
beiden waren vier Stücke zu sehen: Rezas »KUNST« seit 2000, Drei Mal
Leben 2001, Der Mann des Zufalls und Reise in den Winter 2002;
Frayns Farce Der nackte Wahnsinn 1996, das Heisenberg-Bohr-Stück Kopenhagen2001; mit den nun folgenden Erstaufführungen im deutschsprachigen Raum – Demokratie und Verdammt lange her – landet das Theater zwei Coups: einen in
Sachen Publicity und einen beim Publikum.
Am 6. Mai 2004 wird Demokratie am Renaissance-Theater Premiere haben. An diesem Tag jährt sich der im
Stück thematisierte Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt zum 30. Mal. Die
Inszenierung ist für das Renaissance-Theater ein Erfolg; nach zwei
Vorstellungsserien im eigenen Haus geht sie auf Gastspielreisen. Auch für
Michael Frayn ist die Aufführung ein Erfolg; wenig später bekommt er für seine
Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte das Bundesverdienstkreuz.
Doch
gibt es neben dem Michael Frayn, der komplexe historisch-politische Ereignisse
für die Bühne adaptiert, den Michael Frayn, der die ureigensten
Funktionsmechanismen des Theaters selbst thematisiert, was die fabelhafte
Slapstick-Farce Der nackte Wahnsinn.
Beleg dafür ist die einige Jahre zuvor entstandene Komödie Donkeys’ Years. Nun, nach einem Revival in überarbeiteter Version
am Londoner Westend, greift das Renaissance-Theater zu – und wird belohnt:
unter dem Titel Verdammt lange her stürmt
»Der beknackte Wahnsinn» , inszeniert von Torsten Fischer die hausinternen
Charts.
In
den ersten achtzig Jahren des Renaissance-Theaters wurden sechs Stücke für
zwei, eins für drei und eins für vier Herren aufgeführt, genauso viele wie in den
letzten vier Jahren. Bisweilen ballen sich die Männerdramen auf dem Spielplan
eines Monats: Da steht das Duo David Bennent und Gedeon Burkhard mit der
Beziehungskrise zweier Architekten-Kollegen (Der
Krawattenklub) auf dem Programm, gefolgt vom Trio Udo Samel, Peter
Simonischek, Gerd Wameling mit ihrem aus dem Ruder laufenden Disput über »KUNST«, um schließlich in einem Quartett
heftig erschütterter Männerfreundschaft zu gipfeln, mit Rufus Beck, Hans-Werner
Meyer, Boris Aljinović, Josef Bilous als Alte
Freunde – ein Titel, der zu den anderen beiden Stücken genauso passen würde
wie zu einem wenig später erstaufgeführten Import aus Kanada: Auch Gerd
Wameling und Udo Kroschwald sind zwei alte Kumpels, ein Duo, in das ein junger
Mann hineinfunkt (Der Zeichner).
Ob
es am Nachholebedarf liegt, an der Identitätskrise oder am inspirierenden »KUNST«-Vorbild – noch längst ist nicht
alles gesagt, was Männer zu besprechen haben. Wenn Wanja Mues, Alexander
Schröder und Ronald Zehrfeld Männergesprächeuraufführen, kommt auch mal die junge Generation zu Wort – bevor die Senioren-Residenz
zum Schauplatz wird, wo sich Kriegsveteranen, gespielt von Harald Dietl, Jörg
Pleva und Jürgen Thormann, bissige Kabbeleien liefern (Wind in den Pappeln), »mit einem traumwandlerischen Gespür für
treffliche Situationskomik und spitzzüngige Aperçus« von Torsten Fischer in
Szene gesetzt.
Ein
männliches Trio etwas anderen Kalibers begegnet uns in Mondlicht und Magnolien. Zwischen diesen dreien geht es nicht
darum, bislang Ungesagtes endlich einmal zur Sprache zu bringen, sondern um
Arbeit. Das Stück basiert auf einer wahren Geschichte, das heißt, auf
anderthalb Seiten in den Erinnerungen des Drehbuchautors Ben Hecht. Chaos!
Exzess! Irrsinn! Was nach dem größten Flop des Jahrhunderts aussieht, wird
einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten: Vom Winde verweht. Regisseurin Tina Engel hat an dem Stück »die
Chuzpe gereizt, auf der Bühne zwei Stunden lang einen Film zu erzählen«. Mit
einer Top-Besetzung – es spielen Jürgen Tarrach, Boris Aljinović und Guntbert
Warns – gelingt ein großer Wurf. Die Inszenierung wird für den
Friedrich-Luft-Preis der Berliner
Morgenpost für die beste Berliner Aufführung des Jahres 2007 nominiert.
Apropos
glorreiche Höhepunkte des Kinos. Mario Adorf und Volker Schlöndorff kommen nach
einer langen Pause wieder zusammen, was an sich schon ein Ereignis wäre. Daß
ihr neues Projekt ein Theaterstück ist, schlägt in den Medien Wellen. Seit der
Uraufführung der Variations Enigmatiques,
so der französische Originaltitel in Anlehnung an Edward Elgars Komposition,
1996 in Paris, hatte es die Rolle Mario Adorf angetan, den Abel Znorko zu
spielen. In Berlin erreicht Enigma schließlich
im März 2004 die Bühne.
Wenn
sich bei Eric-Emmanuel Schmitt zwei Männer verbal duellieren, enthüllen sie
Schicht für Schicht eine vertrackte Dreiecks-Liebesgeschichte. Nur daß die
dritte Person – eine Frau – nie auftritt. Bei Schmitts etwas jüngerem deutschen
Kollegen Jens Roselt schon. Er läßt nichts im geheimnisvoll Ungefähren: Dreier heißt sein Stück zum Thema
Ehebruch im 21. Jahrhundert. Umso erstaunlicher, daß diese Farce, deren Titel
Erwartungen weckt – einen Dreier denkt sich wohl jeder als einen flotten – , um
sie dann zu enttäuschen, im Renaissance-Theater ihr Publikum findet, ja ein
Renner wird. Oder auch nicht erstaunlich. Schließlich spielt Ben Becker mit.
Daß
»es nicht mehr viel zu lachen (gibt) in Berlin« hebt die Süddeutsche Zeitung positiv hervor: »Tina Engel – einst
Schauspielerin an der Berliner Schaubühne – will in ihrer Inszenierung nicht
die schnellen Wortgefechte, setzt nicht auf Pointen. Sondern auf die Pausen. …
Sie treibt die Farce nicht etwa ins Absurde, sie treibt sie in die Stille und
in die Psychologie«, den Rezensenten gar an Tschechow gemahnt, »obwohl die drei
Schauspieler, die das Publikum anlocken (sollen) durchaus die Sau raus lassen
könnten.«
Nicht
die Sau, aber die Ziege wird raus- und losgelassen in einem anderen Stück; Die Ziege oder Wer ist Sylvia?, ein
neues Werk des amerikanischen Altmeisters Edward Albee, erregt die Gemüter wie
keines seiner Werke. Die Erstaufführung ist
am Wiener Burgtheater; in Deutschland macht das Renaissance-Theater das Rennen.
Worum geht’s? Um einen Mann, der seinen ersten Seitensprung gesteht, seine
Liebe zu einer Ziege, woraufhin bei ihm zu Hause die Hölle ausbricht. Bei der
Inszenierungsarbeit mit den Schauspielern Andrea Sawatzki, Christian Berkel,
Uwe Bertram und dem Schauspielschüler Thomas Fränzel läßt sich Regisseur Felix
Prader von der Überzeugung leiten: »Jedem von uns kann mit einem Schlag irgend
etwas Unwahrscheinliches, bislang Ungewusstes zu einer neuen Gewissheit werden,
die alles verändert. Was als Offenbarung in ein Leben tritt, ist eine
Gefährdung bestehender Ordnung.«
An
welchem Objekt ließe sich die Gefährdung bestehender Ordnung besser
demonstrieren als an einem Paar, das sich ein gemeinsames Leben aufgebaut,
Kinder groß gezogen, Krisen überwunden, kurz: schon einige Jährchen auf dem
Buckel hat? Edward Albees drastisch zugespitzte Version ist spektakulär. Die
Jahrzehnte jüngere australische Autorin Joanna Murray-Smith bleibt in Geschichte einer Liebe (Honour) bei der Standardkonstellation.
Doch gewinnt sie ihr mit trockenem Witz Facetten ab, daß das Ausbleiben
schockierender Enthüllungen vom Publikum offenbar nicht vermißt wird, wie die
Abstimmung an der Theaterkasse zeigt.
Über
das Stück Acht Frauen aus den frühen
Sechzigern und seinen Autor, den als ›natürlichen Sohn von Agatha Christie‹
apostrophierten Franzosen Robert Thomas, war die Zeit längst hinweggegangen,
wie überhaupt über das einst populäre Genre der Theater-Krimis, das nur in
einigen Nischen mit kuriosnostalgischem Flair überwintert
hat. Doch dann kam Anfang des neuen Jahrtausends ein junger Filmregisseur, der
›gallische Fassbinder‹ François Ozon, und grub die nach dem klassischen
›Whodunit‹-Prinzip gebaute Kriminalkomödie aus, um die Crème de la Crème der
französischen Leinwand-Diven aller Generationen in einem von der Außenwelt
abgeschnittenen, verschneiten Landhaus wie wilde Löwinnen in einer Arena
aufeinander loszulassen. Eine artifizielle Synthese aus filmgeschichtlichen
Zitaten und ausgesprochen theatralischen Elementen. Jede der acht
Darstellerinnen hat ihren großen Musical-Auftritt. Jede hat ihre Cover-Version
eines bekannten Liedes, zugeschnitten auf ihre Rolle und zugeschnitten auf ihre
Person. Der Erfolg des Films, vor allem aber das illustre Aufgebot an Stars,
ist noch in aller Munde, als das Renaissance-Theater Robert Thomas’ Werk auf
die Bühne zurückholt, in einer vom Kinohit inspirierten Version. Dietmar
Pflegerl, der Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, schickt das Stückin
einer neuen Textfassung und mit seiner Besetzung ins Rennen: an der Spitze Judy
Winter, Louise Martini, Regina Lemnitz und Ulrike Jackwerth. Der Erfolg ist so
groß, die Begeisterung des Publikums so anhaltend, daß es für 100 überwiegend
ausverkaufte Vorstellungen reicht, für eine Nominierung zum
Friedrich-Luft-Preis 2003 der Berliner
Morgenpost und für den Goldenen
Vorhang 2003, den Judy Winter als beliebteste Darstellerin der
Theatersaison von den Mitgliedern des Berliner Theaterclubs erhält, genauso wie
ihre Nachfolgerin in der Rolle der frischgebackenen Witwe Ursela Monn.
Drei
Jahre nach dem Großprojekt Demokratiestemmt das Renaissance-Theater erneut eine überaus ehrgeizige deutschsprachige
Erstaufführung eines taufrischen Imports von der Insel auf seine kleine Bühne.
Wieder ist es ein Brite, der sich eines ein anderes Land betreffendes
politisch-zeitgeschichtlichen Themas angenommen hat. Zwei Jahrzehnte der
jüngsten tschechischen Geschichte verhandelt Tom Stoppard, nur wenig jüngerer
Konkurrent von Michael Frayn um den Ruf als erfolgreichster englischer
Dramatiker. Beide widmen sich in ihren Dramen gern philosophischen und
politischen Fragen, nur daß Stoppard sie stets etwas glitzernder verpackt. So
auch jetzt: Der gebürtige Tscheche Stoppard spannt den Bogen vom Prager
Frühling 1968 zur Samtenen Revolution 1989, vom Einmarsch der
Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR bis zum Einzug Václav Havels in die Prager
Burg, Sitz des Staatspräsidenten – ihm, der Symbolfigur des Widerstands, dem
Freund und Kollegen hat Stoppard das Stück zugeeignet, Havel die Londoner
Uraufführung mit seiner Anwesenheit beehrt. Auf dem Stück-Paket, in dem jede
Menge Debatten über Theorie und Praxis des Kommunismus, über Ideologie und
Moral stecken, steht indes nicht ›Geschichtslektion‹, sondern ›Rock ’n’ Roll‹.
Tatsächlich werden immer wieder die Rolling Stones und Pink Floyd eingespielt. Das
Stück spielt mal in England, mal in der Tschechoslowakei; vermittelt durch Jan
aus Prag, der in Cambridge bei Max Morrow, einem marxistischen Professor
Philosophie studiert, in die besetzte Heimat zurückkehrt, um »den Rock ’n’ Roll
zu retten«, das heißt die einheimische Band ‹Plastic People of the Universe‹,
schließlich die Repressionsmaschinerie am eigenen Leibe zu spüren bekommt … Um
diesen Kern, die Story vom Rock-Fan Jan und dem englischen Salon-Kommunisten
Max, wickelt Stoppard – bestrebt, eine spannende Epoche zum Leben zu erwecken –
noch etliche weitere Erzählstränge. In London ist das Stück ein großer Erfolg,
ein Teil der englischen Kritik feiert das ambitionierte Werk als eines der
besten politischen Stücke in englischer Sprache (wie zuvor Frayns Demokratie).
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