"Ich
kannte das Gesicht aus der Vorkriegszeit. Da zogen morgens in Scharen
die Arbeiter in ihre Fabriken, später marschierten die Angestellten,
Männlein und Weiblein, in die Geschäfte, Büros. Abends gemilderte
Vergnügungen, zaghaftes Geldausgeben in den Musikcafés, seltenes, aber
intensives Theaterbesuchen. Das Einkaufen eines Anzugs, Mantels, von
Stiefeln, Wäsche, eine wohlvorbereitete Staatsangelegenheit; das ganze
Budget war vorher zu durchdenken. Jetzt, jetzo, jetzunder. Das Geld
eine Ware. Man legt sie nicht hin. Sie schimmelt leicht. Man kauft
nicht, sondern tauscht das leicht verderbliche Geld gegen beständigere
Ware. Tauscht es gegen Lebensmittel, Luxusstoffe, Vergnügungen. ...
Kinos,
Theater, Restaurants gefüllt wie nie. In den Theatern schlagen die
Besitzer die Preise um das Doppelte, Dreifache auf. Das Publikum ist
glücklich darüber. Der Andrang zu den teuersten Plätzen ist am
stärksten. Es gab früher "Drei-Mark-Basars", es wird bald
"Dreißigtausend-Mark-Basars" geben, mit denselben Waren, und - man wird
dem Besitzer danken. Was keine Literatur und Kunst vermocht hat, was
auch die moderne Tanzwelle nicht erreicht hat, ist Ereignis geworden:
Die große Masse ist lose und leicht geworden, sorgt nicht, lebt in den
Tag hinein. Aller Besitz springt aus den Verstecken in den Tag, läuft
um. Ich saß im Kleinen Theater Unter den Linden. Da hat man den
"Totentanz" von August Strindberg neu einstudiert. Starr stand ich an
der Kasse vor dem kleinen Zettel, der die Preise anzeigte. Der
billigste Platz 120 Mark, bis an 700 Mark, dann eine Steigerung, in
einem Saal, der nur Parkett ist. Man zahlt für den schlechtesten Platz
vier Brote, für den besten etwa zweiundzwanzig. Ich stand, schwieg,
nahm eine Karte. An der Garderobe staunte ich zum zweiten Mal: das
Theater mußte voll sein. Drin, in der Pause sah ich`s: es war nicht
gewähltes, sehr reiches Publikum, sondern guter und einfacher
Mittelstand. Vieles, was nach Angestellten aussah. Dies hatte den
Esprit, für die Unterhaltung von zwei Stunden vier bis zweiundzwanzig
Brote auszugeben."
13.
September 1922: "In diesem Jahr, 1922, tönt das Theater und seine
Presse wider vom Lärm des Hauptmann-Jubliäums (Hauptmann wurde 60,
A.d.R.). Keine kritische Stimme hört man im Reich, es sei denn von
rechtsradikaler Seite, denen der Autor nicht "national" genug war oder
ist, oder von sehr linker Seite, denen er nicht genug Pazifist oder
noch weniger ist."
11. Oktober 1922: "Herr Tagger eröffnet nächste Woche ein Renaissance-Theater in der Hardenbergstraße."
Am 18. Oktober 1922 eröffnete der 31jährige gebürtige Wiener Theodor
Tagger im "Motiv"-Haus das "Renaissance-Theater" mit Ludwig Bergers
Inszenierung der "Miß Sara Sampson" von Lessing. Theodor Loos spielte
den Mellefont, Lucie Höflich die Marwood und Gertrud Kanitz die
Titelrolle.
3.
November 1922: "Unzahl Neuaufführungen. Dicht beieinander zwei
Ausstattungsstücke. In der Komischen Oper ein ganz ungewöhnlich
prunkhaftes: "Europa spricht davon". Lustige Szenen, Ballett über
Ballett. Zweifelhafte Musik. "Eine Sehenswürdigkeit". Geschlossener die
Revue des Metropol-Theaters: "New York - Berlin". Zahlreiche schöne
Kostümbilder - Schneiderei ist wichtiger als Theaterei - ... Amüsiertes
Publikum, ausverkaufte Häuser. Das Deutsche Theater verfügt in
Gülstorff, Werner Krauß über vorzügliche Lustspielkräfte; sie trieben
einen tollen Jokus mit Ibsens jungem "Bund der Jugend". Man spielt
nicht eigentlich das Stück, sondern benützt das Stück, um sich
auszulassen. ...
Die
schönste Aufführung, die ich lange in Berlin sah, in dem neuen
Renaissance-Theater am Steinplatz in Charlottenburg. Direktor ist
Theodor Tagger, der gute literarische Antezedenzien (in etwa:
Voraussetzungen; man kannte ihn als Verfasser expressionistischer Lyrik
und Dramatik, A.d.R.) hat. Offenbar auch gute literarische Absichten.
"Miß Sara Sampson" von Lessing, Trauerspiel in fünf Akten. Dieses alte
Stück ist vorzügliches Blut und spricht wie von heute an. - Die
Aufführung in Berlin übte eine starke Wirkung. ... "
So
fing es an. Wie es weiterging, erzählen wir Ihnen im nächsten Heft.
Dazu sammeln wir Zeugnisse jeder Art, die die Geschichte des
Renaissance-Theaters dokumentieren: Programmhefte, Besetzungszettel,
Fotos, Zeitungsartikel usw. - Material, das wir im nächsten Jahr, zu
Beginn der Jubiläums-Spielzeit in einer Festschrift publizieren
möchten. Deshalb nun unsere Bitte an Sie, liebe Freunde des
Renaissance-Theaters: Wer von Ihnen ist im Besitz derartiger Dokumente?
Würden Sie uns diese zur Verfügung stellen (auch leihweise, zum
Kopieren oder Fotografieren)? Wir freuen uns über jede Kleinigkeit,
jeden Hinweis, auch über jeden Tip, wo eventuell etwas zu finden wäre!
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